Hier geht es zurück Angies Welt
Ich stand auf dem Balkon meines Hotelzimmers, sah zum Meer hinüber und lauschte angestrengt in die beginnende Dunkelheit. Es war angenehm warm und fröhliche, ausgelassene Menschen tummelten sich noch immer am Strand oder auf den Straßen.
Wie in den Jahren zuvor fragte ich mich: "Warum tu ich mir das an? Was lässt mich immer wieder an diesen Ort zurückkehren?" Aber wo sollte ich hin, wo meinen Urlaub verbringen, wenn nicht hier? Nur hier hatte ich das Gefühl Maria wieder nah zu sein. Außerdem war ich fest davon überzeugt, wenn sie noch lebt, dann werde ich sie hier finden, nur hier.
Noch immer war ich nicht bereit zu akzeptieren, dass Maria tot war. Immer wieder stellte ich mir vor, sie habe ihr Gedächtnis verloren, wisse nicht mehr wer sie ist, wo sie hingehört, irrte am Strand oder auf den Straßen umher. Und eines Tages werde ich sie sehen und sie wird sich erinnern und dann werden all die, die mich für krank hielten einsehen müssen, dass ich nicht von Schuldgefühlen zerfressen bin und nur aus diesem Grund Marias Tod nicht wahr haben wolle.
Aber war ich nicht wirklich Schuld, in jener Nacht, als ich mich weigerte mit ihr ins Meer hinaus zu schwimmen?  Nicht etwa das ich zu müde wahr oder ein schlechter Schwimmer bin. Nein, der wahre Grund wahr einfach der, dass ich es als eine gute Gelegenheit ansah, mit Claudia ein paar Minuten allein zu sein.
Claudia war Marias beste Freundin. Sie kannten sich schon seit der gemeinsamen Schulzeit. Sie war Single und als Maria mich eines Tages fragte, ob sie nicht mit uns gemeinsam den Urlaub verbringen kann, stimmte ich sofort zu. Schließlich kannte ich ja Claudia recht gut und sie würde uns nicht stören oder auf die Nerven gehen. Jedoch entpuppte sie sich schon am ersten Tag, als wir gemeinsam am Strand lagen, als ein völlig anderer Mensch. Sie schien freizügiger, lockerer.
Ständig suchte sie meine Nähe, immer bestrebt Körperkontakt zu mir aufzunehmen. Der Blick ihrer Augen, ihre Gesten - nichts konnte verheimlichen was sie wollte.
Oft fragte ich mich: "Wollte es Maria nicht sehen, oder war sie wirklich so naiv zu glauben, ihre beste Freundin würde ihr nie den Mann ausspannen?"
Oder war es doch wahr, was Claudia, nach dem tragischen Unfall auf den Anrufbeantworter sprach, nur wenige Stunde nach meiner Rückkehr aus Spanien?
Ihren Worten nach, hatte Maria sie gebeten mich zu verführen. Maria habe ein schlechtes Gewissen gehabt, da sie mich betrogen hätte und sie ihre Schuldgefühle nur dann los werden könnte, wenn sie wüsste, dass ich sie auch  betrügen würde.
Schlimmer noch, sie bestand angeblich darauf, zusehen zu dürfen, um Gewissheit zu haben, dass es mir wirklich Spaß machte mit ihrer besten Freundin zu schlafen.
Wer' s glaubt? Sicherlich wollte Claudia nur Marias Platz bei einnehmen.
Ich reagierte nicht auf ihren Anruf, auch nicht auf den darauf folgenden. Irgendwann gab sie es auf, rief nicht wieder an und ich hatte Claudia seit dem nie wieder gesehen.

An jenen Abend am Strand war es noch anders, ich wollte SIE und war sicher ich würde sie auch bekommen. Und wenn Maria übersah was sich da anbahnte, dann war sie es auch selber schuld, musste sie die Verantwortung dafür übernehmen, was sich zwischen mir und ihrer Freundin abspielen würde.
Claudia näherte sich mir, kaum dass Maria weit genug hinausgeschwommen war. Wir sahen sie nur noch als winzigen Punkt im Wasser.
Ich machte mir keine Sorgen, denn ich wusste sie war eine gute Schwimmerin. Die Wellen waren nicht hoch. Das Meer wirkte zwar ein bisschen unruhig, aber nicht so, das man eine Gefahr befürchten musste.
Doch der Schein trog. Während Claudia und ich uns wie wild im Sand liebten, spürten wir plötzlich einen kräftigen Wind aufkommen. Mein erster Gedanke galt Maria.
In Sekundenschnelle löste ich mich von Claudia, sprang auf und rannte zum Wasser. In der Ferne konnte ich Maria sehen. Unbekümmert schien sie zum Strand zurück zu schwimmen. Meterhohe Wellenberge türmten sich bedrohlich hinter ihr auf, getrieben von einem Wind der an Stärke und Kraft zunahm. Maria erkannte plötzlich ihre Lage, in ihrem Gesicht spiegelt sich Todesangst. Panisch ruderte sie mit den Armen und schien mir etwas zu zurufen.
Ich wollte ins Wasser, wollte ihr helfen. Claudia aber riss und zerrte mit einer solchen Kraft an mir, dass ich kaum einen Meter vorwärts kam. Ich sah wie eine Riesenwelle Maria packte, sie durch die Lüfte warf und mit ihr zu spielen schien. Entsetzt verfolgte ich die Szenerie. Unfähig ihr zu helfen, nein, wissend das ich ihr nicht mehr helfen konnte.
In wenigen Minuten war der Spuk vorbei!
Hilflos ließ ich mich in den Sand fallen und suchte immer wieder mit den Augen das Meer ab. Aber ich konnte Maria nicht mehr sehen. Die Wellen hatten sie mitgerissen hinaus auf's offene Meer oder sie irgendwo gegen ein Riff geschmettert.
Tagelang suchte  man vergebens nach Maria. Nicht einmal ihren toten Körper wollte das Meer mir zurückgeben. Aber ich habe mir geschworen, so lange man nichts von ihr findet, werde ich immer überzeugt sein, dass sie noch lebt.

Nun war ich also wieder hier. Warum? Ich kann es nicht sagen. Vielleicht um Klarheit in meinen Gefühlen zu schaffen, vielleicht auch, um mir einzugestehen, dass Maria nicht mehr lebt und ich mich damit abfinden muss. Ich weiß es nicht.
Wie jeden Abend schlendere ich den Strand entlang, lasse meine Augen suchend durch die Dunkelheit gleiten. Hoffend Marias Gesicht zu entdecken, in ihrer unbekümmerten Art den Strand entlang laufen zu sehen!
Es ist eine dunkele Nacht und überall sieht man Paare die sich im Sand vergnügen. Ungeniert geben sie sich ihren Liebesspielen hin, wissend, dass man nichts außer Schatten sehen und leises seufzen hören konnte.
Ich beschleunigte meine Schritte. Ein beklemmendes Gefühl machte sich in mir breit und ich beginne schneller und schneller zu laufen. Erst als ich fernab vom Treiben der Liebenden bin lasse ich mich langsam in den noch warmen Sand sinken.
Alles kommt mir plötzlich so vertraut vor. Ja, ich war wieder dort angekommen, wo ich mit Claudia gelegen hatte. Wo Maria ins Meer ging und von diesem Weg  bis heute nicht wieder zurück gekehrt ist. Gebannt starre ich auf das Wasser. Nur ein leises  plätschern der Wellen ist zu hören.
In all den Jahren, den zahlreichen Tagen die ich seit dem Unglückstag hier verbracht habe, war das Meer so ruhig wie heute. Nur ein mal, ein einziges mal war es nicht so!

Angestrengt starre ich in die Ferne, bin mir sicher weit hinten im Wasser eine Frau zu erkennen.
"Maria?"
"Maria!" Ungewollte kommt ihr Name über meinen Lippen. Die Gestalt nähert sich, nimmt Konturen an. Unschwer zu erkennen, dass es eine nackte Frau ist. Langes, blondes Haar fällt auf ihre zarten Schultern. Ihr Gang ist locker, fast provozierend freizügig und sie kommt mir immer näher.
Näher und näher. Ich wage kaum zu atmen und als ich endlich ihr Gesicht erkennen kann, weiß ich nicht, soll ich vor Freude schreien, an meinen Verstand zweifeln oder einfach nur davon laufen.
Maria!" Sie stand vor mir. So wie sie damals ins Meer gegangen ist, ist sie wieder zurück gekehrt. Unfähig etwas zu sagen ließ ich das, was nun kam geschehen.

Wir liebten uns bis in den frühen Morgen. Niemand sprach ein Wort  und als die Sonne sich aufmachte den Tag langsam zu erhellen, stand Maria auf. Sie nahm mich bei der Hand und führte mich zum Wasser. Ich folgte ihr. Folgte ihr weiter hinaus, bis ich kaum noch Grund unter den Füssen spürte.
Ich löste mich von Maria, sah zurück zum Strand. Er schien unendlich weit weg. Als  ich mich wieder umdrehte, war Maria nicht mehr da. Statt ihrer sah ich nur eine riesige Welle auf mich zukommen. Meine letzten Gedanken galten der Frau, die ich liebte, wissend, dass ich bald für immer bei ihr sein werde. Dann verschlang mich die Welle, ich tauchte ein in das Riesenmaul eines Ungeheuers.

Als ich wieder zu mir kam, lag ich am Strand. Mein linkes Bein war gebrochen, mehrere Rippen geprellt und mein Kopf brummte. Frühaufsteher fanden mich am Strand und riefen einen Krankenwagen.
Nach meiner Rückkehr nach Deutschland begab ich mich in psychiatrische Behandlung. Diesmal hatte mich das Meere wieder ausgespuckt, aber was wird beim nächsten mal sein?



<----- ENDE ----->




Liebe die im Meer versinkt (C) Oktober 2002 by Heinz Oh. - Online seit:01.08.2003 - Klicks heute:2 - Klicks gesamt:1774.